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Gregor Gysi© Inga Haar, Deutscher Bundestag

Gregor Gysi im Gespräch

Veröffentlicht am Freitag, 01. Dezember 2017

Gregor Gysi hat die politische Landschaft im wiedervereinten Deutschland entscheidend mitgeprägt. Nicht nur im Osten, wo er in der Wendezeit als neuer Vorsitzender die vielgehasste SED auf den Weg zu einer modernen Linkspartei führte. Seine Eloquenz, seine deutliche Kritik sozialer Mängel und politischer Fehlentscheidungen, verbunden mit reichlich Selbstironie, haben ihn bis heute deutschlandweit zu einem der beliebtesten Politiker gemacht. Und das sogar bei Menschen, die seine Partei vielleicht nie wählen würden. Am 16. Januar 2018 feiert Gregor Gysi seinen 70. Geburtstag. Genau eine Woche später ist er in der Dessauer Marienkirche zu Gast, um im Gespräch mit Moderator Jürgen Rummel auf sein bewegtes Leben zurückzublicken. Im Mittelpunkt steht seine aktuelle Autobiographie „Ein Leben ist zu wenig“, in der er auch ungewohnt private Einblicke gibt. Einen kleinen Vorgeschmack gibt es im LEO-Gespräch.

Im Januar begehen Sie Ihren 70. Geburtstag. War dies auch der Anlass, Ihre aktuelle Autobiografie zu verfassen?

Gregor Gysi: Auch, aber vor allem der Abschied als Fraktionsvorsitzender. Die Arbeit daran war ein längerer Prozess mit vielen Gesprächen mit der Familie und Weggefährtinnen und -gefährten. Am interessantesten für mich war neben vielen Erinnerungen die Familiengeschichte. Dass ich zum Beispiel mit dem wichtigsten deutschen Geflügelzüchter verwandt bin, hätte ich ohne das Buch vermutlich nie erfahren.

Eine Autobiographie ist ja auch immer ein Spiegel, den man sich vorhält. Sicherlich ein ebenso spannender wie anstrengender Prozess. Gab bzw. gibt es im Rückblick auf das Schreiben neue Erkenntnisse, die Sie über sich selbst gewonnen haben?

Gregor Gysi: Nach einem längeren Leben mit wirklich vielen Ereignissen und Erlebnissen sollte die Selbsterkenntnis doch so weit sein, dass man sich in dieser Beziehung nicht mehr so sehr selbst überrascht. Aber der lange Weg von Anfang der 90er Jahre, als mir mitunter ein wirklich abgrundtiefer Hass entgegenschlug und mir zugleich viele Menschen all ihre Hoffnungen, in dem vereinten Deutschland politisch, sozial und ökonomisch nicht unterzugehen, auf die Schultern luden, bis in die Gegenwart, in der der Kanzleramtsminister meine Autobiographie vorstellt, ist nochmal lebendig geworden. •

Sie geben im Buch viele private Einblicke, von der bewegten Ahnen- und Familiengeschichte bis zum Jungfernflug mit Lothar Bisky. Wie sehr hat Ihr Leben Ihre Politik geprägt – und andersherum?

Gregor Gysi: Ich vermisse Lothar Bisky sehr. Sein viel zu früher Tod tut immer noch weh. Hätte ich ge-wusst, was auf mich zukommt, wäre ich wohl Ende 1989 nicht Parteivorsitzender geworden. Die Politik hat mein Leben in den Jahren seitdem maßgeblich bestimmt, mitunter habe ich sie und mich auch zu wichtig und mir für Familie und Freunde zu wenig Zeit genommen. Dass mein persönlicher Stil auch ein bisschen die Politik beeinflusst hat und es gelungen ist, DIE LINKE fest im bundesdeutschen Parteiensystem zu verankern, steht auf der Habenseite.

Für die Öffentlichkeit sind Sie im Herbst 1989 relativ überraschend auf dem politischen Parkett erschienen und haben sich sehr schnell als Erneuerer der SED im Speziellen und der linken Politik allgemein etabliert. Mit welchen Zielen haben Sie das Anwaltsbüro gegen das politische Mandat getauscht? Und wie fällt die Zwischenbilanz aus?

Gregor Gysi: Ich habe es ja nicht wirklich getau-scht, sondern bin nach wie vor auch als Anwalt tätig, wenngleich natürlich in sehr begrenztem Umfang. Als wir anfingen, ging es zunächst mal darum, überhaupt eine Partei links von der Sozialdemokratie in einer nennenswerten Stärke zu erhalten. Das gab es nach 1949 in der Bundesrepublik nicht. Schnell stellte sich auch heraus, dass wir zunächst als einzige Partei die Interessen der Ostdeutschen konsequent vertraten und somit verhinderten, dass sie in Vergessenheit gerieten. Später ging es um die Frage, ob es gelingt, DIE LINKE bundesweit aufzustellen, was dann in Zusammenarbeit mit Oskar Lafontaine und der WASG auch gelang. Inzwischen regieren wir in drei Ländern mit, stellen mit Bodo Ramelow einen Ministerpräsidenten und sind aus dem Bundestag kaum mehr wegzudenken. Wir haben schon einiges erreicht, aber konnten den Rechtsruck nicht verhindern.

Im Herbst 2015 haben Sie sich von allen Parteiämtern zurückgezogen, sind seit 2016 aber Vorsitzender der Europäischen Linken und nun erneut in den Bundestag gewählt. Wo sehen Sie aktuell Ihre dringlichsten politischen Aufgaben?

Gregor Gysi: Zum einen darin, meinen Wahlkreis Treptow-Köpenick zu vertreten und mich um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen dort zu kümmern. Zum anderen muss sich die Europäische Linke angesichts der Rechtsentwicklung überall auf dem Kontinent zu einem starken handlungsfähigen Gegenüber entwickeln. Das wird sie nur werden, wenn von ihr der Impuls für eine Änderung der europäischen Politik ausgeht, hin zu mehr Demokratie, sozialer Wohlfahrt, friedlicher Außenpolitik, ökologischer Nachhaltigkeit, mehr Transparenz, weniger Bürokratie. Und zum dritten gebe ich hin und wieder auch der Linken in Deutschland ungefragt und störend den einen oder anderen Ratschlag.

Europa- und weltweit erstarkt der Nationalismus, nicht zuletzt auch aufgrund vieler Protestwähler, die denken, durch diese Wahl ein Zeichen gegen die „etablierten“ Parteien setzen zu können. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? Wo sehen Sie die Ursachen und wie kann eine „linke Antwort“ auf diesen Trend aussehen?

Gregor Gysi: Es ist eine Art Gegenreformation zur neoliberalen Globalisierung zu beobachten, die ver-sucht, Lösungsmöglichkeiten wieder in den nationalen Rahmen zu pressen und dabei fast logisch bei einem extremen nationalen Egoismus landet, den der US-Präsident Trump mit seinem „America first“ zur Agenda seiner Regierungspolitik erhoben hat. In Europa haben wir in Polen, Ungarn, Dänemark, den Niederlanden und zuletzt in Österreich erlebt, dass dieser nationale Egoismus schon die Regierungspolitik bestimmt und überall – auch in Deutschland – gibt es Parteien, die dafür streiten.

Entscheidend ist, dass die Politik sich endlich den Problemen widmet, die den Leuten auf den Nägeln brennen: bezahlbare Wohnungen, gerechte Löhne, vernünftige Wege zum Arzt, Schulen, die gut ausgestattet sein müssen, und die wirksame Bekämpfung von Fluchtursachen. Darüber hinaus ist auch eine Veränderung der Politik in Europa und weltweit vonnöten. Wir haben zwar eine funktionierende globale Wirtschaft, aber keine demokratisch legitimierte, funktionierende Weltpolitik. Es gibt jedoch viele Unternehmen, die weltweit Beschäftigte haben und alle Menschen im digitalen Zeitalter wissen, auf welchem Wohlstandsniveau man wo lebt. Das ist der Unterschied zu früher. Und deshalb stellt sich die soziale Frage nicht nur national, sondern weltweit.

Sie sind einer der beliebtesten Politiker Deutschlands, selbst bei Menschen, die mit der Partei „Die Linke“ ansonsten wenig anfangen können. Wie erklären Sie sich das selbst?

Gregor Gysi: Das sollten wirklich besser andere beurteilen. Was mir aber immer wieder Menschen sagen, ist, dass sie bei mir verstehen, worüber ich spreche, und dass sie glauben, dass ich meine Ziele wirklich anstrebe. Es zeigt aber vermutlich mehr über die Politik insgesamt, wenn man mit dieser Herangehensweise schon eine gewisse Akzeptanz erlangt.

Sie sind Politiker, Autor, Anwalt und regelmäßig auch als Moderator zu erleben. Wieviel Platz ist da noch für ein Privatleben? Und hat sich die Prioritätensetzung im Laufe der Zeit geändert?

Gregor Gysi: Der Tag hat ja 24 Stunden. Diese vier Berufe ergänzen sich. Aber natürlich erfordern sie auch viel Zeit. Ich versuche alles miteinander zu verbinden. Früher hatte die Politik sicher die oberste Priorität, jetzt gewinnt anderes an Gewicht. Meine Kinder sagen, dass ich nicht mehr Zeit hätte, aber besser zuhörte. Immerhin.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie seien „wild entschlossen, das Alter zu genießen“. Wie wird dieses Genießen aussehen – und wann fängt für Sie das Alter an?

Gregor Gysi: Ich bewege mich darauf zu. Es ist wichtig für sich selbst zuzulassen, dass man nicht mehr jede Verantwortung übernehmen und tragen muss. Daraus erwächst die innere Freiheit, das Leben genießen zu können, auch durch Ausstellungs-, Konzert- und Opernbesuche, durch Essen, Wein...

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